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  • Hintergrundbild 1: Das IGfB-Team © angelicajaud.com
  • Hintergrundbild 2: Beratungsgespräch © angelicajaud.com
  • Hintergrundbild 3: Beratungsgespräch © angelicajaud.com
  • Hintergrundbild 4: Workshop © angelicajaud.com
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Ein aufwühlender Abend neigt sich zu Ende. Ich versuche innerlich zur Ruhe zu kommen. Ich wollte doch eigentlich schon längst schlafen. Das SMS meines Sohnes hat mich wieder wachgerüttelt.

Er lässt mich darin wissen, er kommt später nach Hause als vereinbart. Ausgemacht war um 23:00. Er schreibt: „Es ist noch so toll. Ich weiß, das ist nicht ok, aber ich bleib noch und fahre erst mit dem Nightliner. Ich möchte noch bleiben. Morgen kann ich ausschlafen.“ Na bravo. Ich werde unruhig und fühle mich nicht ernst genommen. Wir hatten doch etwas ausgemacht. Gleichzeitig spüre ich Verständnis und Vertrauen. Da ist der Anteil in mir, der am alten Bild des Gehorsams andockt, der Kontrolle möchte und Angst verspürt, dass mein Sohn ab jetzt macht, was er will. Ebenso empfinde ich Bewunderung für seinen Mut und seine Klarheit. Er entscheidet selbstbestimmt und für sich selbst. Er teilt uns seine Entscheidung mit und übernimmt Verantwortung für seine Bedürfnisse. Eigentlich wunderbar. Eigentlich könnte ich doch stolz sein, ihm vertrauen und mich entspannen. Doch diese und ähnliche Diskussionen mit meinem 15-jährigen Sohn fordern mich heraus.

Aufgewühlt lege ich mich ins Bett. Ich kann noch nicht schlafen. Ich blättere im Buch „Respekt, Vertrauen und Liebe“ von Jesper Juul. Was für ein Glücksgriff! In Kursivschrift leuchtet mir eine entscheidende Frage entgegen: „Willst du deinem Kind vertrauen oder nicht?“ Diese Zeilen holen mich genau da ab, wo ich in meinem inneren Prozess, in meinem Suchen und Zweifeln stehe. Weiters lese ich einen Spruch, der genau meine Ängste anspricht: „Gib dem Kind den kleinen Finger, und es nimmt die ganze Hand.“ Juul kritisiert ihn scharf: „...das bedeutet Misstrauen gegenüber Kindern.“ Ich schäme mich für mein Misstrauen und meine Angst. Ich will meinem Sohn vertrauen!

Jesper Juul beobachtet, dass Erwachsene oft nur in zwei Möglichkeiten denken. „Entweder bestimmt das Kind und macht, was es will, oder der Erwachsene bestimmt.“ Aber es gibt einen Weg dazwischen. Und um diesen dritten Weg geht es in diesem Buch – wie wir unseren Umgang mit unseren Kindern auf den drei Säulen von Liebe, Respekt und Vertrauen aufbauen. Jesper Juul gibt dazu Einblicke in seine persönlichen Leitbilder.

Das Buch fesselt mich. Mein Energiepegel steigt. Ich bin neugierig. Die nächste Frage hat mich schon erwischt: „Was willst du eigentlich? Willst du einen guten gehorsamen oder einen freien Menschen erziehen? Natürlich möchte ich, dass mein Kind sich frei fühlt und Verantwortung für seine Meinung, seine Bedürfnisse übernimmt! Ich finde es stark, wenn er seine Entscheidungen trifft, Ja zu sich zu sagt und seinen Weg geht. Nur wenn er Möglichkeiten hat, sein Leben zu gestalten, kann er es lernen. Ich möchte meinem Sohn nicht einen Befehl geben und dann erwarten, dass er brav „Jawohl“ sagt. Juul schreibt, dass eine neue Form von Beziehung eine neue Sprache braucht, weg von der Kommandosprache hin zur persönlichen Sprache. Eltern müssen spürbar sein. Kinder suchen die Grenzen ihrer Eltern. Sie möchten spüren, wer der Mensch hinter der Rolle als Mutter oder Vater ist.

Juul wendet sich in direkter, teilweiser scharfer und mitunter humorvoller Weise an Eltern und Fachpersonen, aber auch an Jugendliche. Seine Sprache ist klar und aufrüttelnd. Deutlich und ernsthaft, liebevoll und zugewandt bringt er es immer wieder auf den Punkt. Pädagogik braucht es zu Hause keine. Pädagogische Begleitung haben die Kinder mehrere Stunden am Tag. Daheim geht es darum, als Mensch spürbar zu sein und das Leben gemeinsam zu leben. Es ist ihm ein Herzensanliegen, dass sich Eltern nicht verstecken. Daher räumt er dem Dialog und der Sprache des Herzens viel Raum ein. Einen Dialog zu führen, bedeutet einerseits, dass wir dem Kind ehrlich sagen müssen: „Nein, das geht nicht!“, wenn dem so ist. Kinder wollen uns als Eltern spüren und wissen, wie wir zu Erfahrungen und Dingen stehen. Aber andererseits auch zuzuhören.

Auch wenn es in dieser Lebensphase zwischen meinem Sohn und mir des öfteren Differenzen gibt, möchte ich die Eigenschaften, Gedanken und Gefühle meines Kindes genauso ernst nehmen, wie meine eigenen. Ich brauche ein Ohr und ein Auge für meinen Sohn. Ich muss ihn hören und seine Realität aus seinen Augen sehen. Und ich muss wissen, was ich will und was für mich wichtig ist. Und dann mein eigenes Wollen auf mein Kind abstimmen. Jesper Juul bezeichnet das Gleichwürdigkeit. Alle Menschen, egal welchen Alters, sind von gleicher Würde und gleichem Wert. Willst du in Gleichwürdigkeit leben und dein Kind auf Augenhöhe begleiten, hat erwarteter Gehorsam keinen Platz. Da ist Jesper Juul ganz klar. Und das kann richtig schwierig werden, weil es für mich als Mutter heißt, dass ich eine neue Art erlernen muss und kann, wenn ich mich auf mein Kind beziehen möchte. Es gilt also an der eigenen Führung zu arbeiten. Nicht auf Gehorsam zu bestehen, sondern mit Offenheit und Empathie nach Lösungen suchen, die mir und dem Kind gerecht werden und sich auf einen Dialog einlassen. Erst echte Dialoge lassen Lösungen entstehen, an die wir vorher nicht gedacht haben.

Nicht nur einmal betont Jesper Juul, dass Erziehung nicht erzieht. „Erziehung ist nicht nur anstrengend, sie funktioniert auch nicht!“ Er beruhigt uns Eltern, denn er ist sich sicher: „Alles, was wir als Erwachsene machen, erzieht!“ Wie wir miteinander reden, mit den Kindern, den Nachbarn und unsere Eltern... wie wir unsere Konflikte lösen, unsere Interessen leben und pflegen. All diese Dinge erziehen. Quer durchs Buch begegnen mir Einladungen mich zu entspannen. „Versuchen Sie weniger zu erziehen. Und versuchen Sie die Kinder einfach nur zu genießen!“ Ein paar Seiten weiter steht es wieder: „Zurücklehnen und entspannen. Durchatmen und genießen. Der Sommer ist zwar schon vorbei, aber in diesen Worten schwingt Sommerenergie. Ich nehme sie auf und fühle mich leichter, beschwingter, freier.

In einem Kapitel lese ich, dass Eltern feiern und eine Flasche Champagner öffnen sollen, wenn ihr Kind selbstbestimmt den Weg geht und sich gut ausdrücken kann. Freude steigt in mir auf. Mein Sohn besitzt die Fähigkeit, mir in die Augen zu schauen und zu sagen: „Hör zu, das bin ich. Das ist mein Bedürfnis. Dafür setz ich mich ein.“ Jesper Juul findet das wunderbar! Er sieht darin eine Fähigkeit, die viele Erwachsene dringend brauchen würden und sich hart erarbeiten müssen. Ich klappe das Buch zu und spüre Respekt vor meinem Sohn, Vertrauen in unsere Beziehung und Wärme in meinem Herzen. Tief entspannt falle ich in den Schlaf. Die Flasche Champagner öffne ich morgen mit meinem Mann.

 

Jesper Juul starb im Juli 2019. Noch zwei Monate vor seinem Tod plante er mit seiner Lektorin das Buch „Respekt, Vertrauen und Liebe“, das ihm ein Herzensanliegen war. Darin verdichtet sich die Essenz gelingender Erziehung. Aus gesundheitlichen Gründen war es ihm nicht mehr möglich dieses Buch selbst zu schreiben. Auf der Basis von drei Vorträgen hat Mathias Voelchert diese Aufgabe vollendet und ein wertvolles Vermächtnis geschaffen.

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