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  • Hintergrundbild 1: Das IGfB-Team © angelicajaud.com
  • Hintergrundbild 2: Beratungsgespräch © angelicajaud.com
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Vertrauen. Empathie. Resonanz. Es ist alles da.

Ich sitze vor einer aufgehenden Tulpe. Sie strahlt in kräftigem Rot und öffnet sich zu ihrer vollen Pracht. Ich staune. Ich habe die Zwiebel zu Beginn des neuen Jahres in die Erde gelegt. Jetzt steht sie in ihrer vollen Kraft und Schönheit vor mir. Es ist wie ein Wunder. Es ist alles da, alles angelegt. Wenn die Zwiebel auf fruchtbaren, lockeren, feuchten Boden fällt, Licht und Raum bekommt, kann sie Wurzeln schlagen und wachsen und ihre ganze Fülle und Schönheit entfalten. So bestaune ich das auch bei Kindern.

Kinder werden sozial kompetent geboren. Kinder tragen von Anfang an die Fähigkeit in sich, in Beziehung zu gehen, Beziehungen aufzubauen und ein Miteinander zu gestalten. Es ist alles da. Wenn unsere Kinder das bekommen, was sie für eine gesunde Entwicklung brauchen, sind sie aus sich heraus in der Lage, ihr volles menschliches Potential zu entfalten und ihr Leben für sich und andere gut zu gestalten. Sie tragen das Wesentliche in sich, um sich zu Erwachsenen zu entwickeln, die Verantwortung für sich und für andere übernehmen, mit anderen klarkommen und mit der Welt in Verbindung gehen können.

Als Beratungslehrerin habe ich beruflich viel mit Kindern zu tun, die durch ihr Verhalten auf sich aufmerksam machen oder den Rahmen sprengen. Sie geben uns mit ihrem Verhalten eine kompetente Rückmeldung auf ihre Umstände, innere Not und unerfüllten Bedürfnisse. Diesen Kindern gebe ich heute in meinem Text eine Stimme. Dieses Bedürfnis kommt auch aus der Erfahrung, dass wir vor lauter Ringen nach pädagogischen Maßnahmen oft die Stimmen der Betroffenen gar nicht mehr hören. Dabei sind ihre Worte so deutlich. Die Zartheit, Kraft und Klarheit, die in ihren Worten steckt, berührt mich immer wieder aufs Neue, lässt mich Staunen und behutsam weitere Schritte gehen. Hier ein paar Einblicke in meinen Alltag.

Kinder wollen mit ihrem ganzen Dilemma da sein können

Manche Kinder fallen auf, indem sie still, zurückgezogen und verschlossen wirken. Einige kommen von selbst zu mir, wenn ihnen der Druck zu groß wird und sie jemanden zum Reden brauchen. So wendet sich die 14-jährigen Florin* an mich. Sie wird mit ihrer inneren Verzweiflung nicht mehr fertig und verspürt Angst, sich selbst zu verletzen.

„Ich kann daheim nicht zeigen, wie ich mich fühle. Ich kann es nicht zulassen zu weinen. Ich fühl mich dafür schlecht. Daher weine ich nur in der Nacht. Da sieht und hört es niemand. Es ist besser nichts zu sagen. Mama versteht mich nicht. Sie sagt zwar, wir können über alles reden. Aber wenn ich dann auspacke, ärgert sie sich oder sie hat gleich eine Lösung oder einen Ratschlag.“

Florin wünscht sich, dass jemand für sie da ist und gleichzeitig hat sie Angst sich zu zeigen. Sie sehnt sich nach einem sicheren Raum, um mit ihrem Schmerz und ihren Bedürfnissen da sein zu dürfen. Aber wenn sie sich öffnet, erfährt sie von ihrem Umfeld: „Musst ja nicht so übertreiben. Mach nicht so ein Drama! Ich versteh dich ja, aber …“ Florin sagt dazu: „Wenn sie verstehen würde, würde sie nicht immer ein Aber dahinter setzen!“

Kinder brauchen Erwachsene, die sie ernst nehmen und zuhören, ohne an eine Lösung zu denken, zu beschwichtigen oder zu bewerten. Kinder wollen mit ihrem ganzen Dilemma dasein können. Sie brauchen häufig keine Lösung, sondern unser Wohlwollen, unsere Empathie und Zugewandtheit – auch jene Kinder, die über Tische gehen, Regeln sprengen, sich Anweisungen widersetzen und sozial keinen Anschluss finden.

Oft bitten mich achtsame oder verzweifelte Lehrpersonen um Unterstützung, da es für sie neben all den Anforderungen schwierig ist, mit herausgeforderten Kindern in einen Dialog zu kommen, ihr Verhalten zu verstehen und angemessen darauf zu reagieren. Es sind Kinder, die sich anders verhalten, wie wir Erwachsenen uns das vorstellen und es gerne hätten. Da helfen keine Verstärkerpläne mehr, keine Helferkonferenzen und von außen gesetzten Maßnahmen der Erwachsenen.

Ich möchte hier einladen mit mir hinzuspüren, wie es uns gelingen kann, in solchen Situationen in Beziehung zu bleiben und einen Resonanzraum zu öffnen, in welchen sie sich hineinentwickeln können.

Meistens gelingt es mir recht gut, zu jenen Kindern eine vertrauensvolle Verbindung aufzubauen und somit einen sicheren Raum zu schaffen, in dem sie ihr Herz öffnen. Dann darf ich eintauchen in ihre Sicht der Dinge, wie sie die Welt um sich herum wahrnehmen und ihre Beziehungen erleben. Das empfinde ich als großes Geschenk. Sie fassen meist sehr bildhaft und präzise ihre Empfindungen in Worte und Bilder. So klar und deutlich, dass ich manchmal richtig Gänsehaut bekomme.

Ein Mädchen, das immer wieder Wutanfälle bekommt, drückte es so aus:

„Mir ist alles zu viel. Ich fühl mich wie eine Mineralwasserflasche. Mit viel Sprudel, die geschüttelt worden ist ... aber ein Deckel ist drauf ... viel Druck ist da ... wenn der Deckel hoch geht, sprudelt und zischt es raus. Dann hab ich mich nicht mehr unter Kontrolle und sage Dinge, die ich nachher bereue.“

Kinder wie diese lassen mich teilhaben an dem, was sie schmerzt und für sie schwierig ist. Sie beschreiben, was sie verunsichert im Umgang mit ihren engsten Bezugspersonen, jenen Menschen, die sie durchs Leben begleiten und denen sie vertrauen wollen.

Eine Schülerin namens Vicky*, hat panische Angst zu versagen. Sie lässt Testergebnisse nicht unterschreiben, fehlt bei Schularbeitsterminen und leidet häufig an Bauchschmerzen. Sie setzt sich selbst unter hohen Druck. Vicky schildert ihren Schmerz so:

„Als Tochter möchte ich perfekt sein, mehr als perfekt. Ich will meine Eltern nicht enttäuschen. Ich möchte, dass meine Eltern glücklich sind und mich liebhaben. Aber ich bin einfach nie gut genug für meinen Vater. Er kritisiert mich, ich muss mehr essen, muss mehr lernen, muss mehr helfen, muss weniger Handy schauen. Ich bin nie genug für ihn. Dabei streng ich mich so an. Ich bin daher streng mit mir selber. Was nicht perfekt ist, geht in den Müll. Was nicht perfekt ist, dürfen sie nicht wissen." 

Kinder wollen kooperieren

Wenn wir als Fachpersonen hinter dem für uns sichtbaren Verhalten das sozial kompetente Kind sehen, ist es eine Einladung das Verhalten ernst zu nehmen. Das Mädchen gibt uns einen wertvollen Hinweis auf ihre Umstände. Sie zeigt uns deutlich, dass sie in Not ist und nicht bekommt, was sie braucht. Sie verausgabt sich, strengt sich über Grenzen hinaus an, um gesehen zu werden und sich wertvoll zu fühlen. Dieses Mädchen gibt, wie eigentlich alle Kinder alles, um für ihre Eltern wertvoll zu sein. Doch ihre Anstrengung scheint nie zu reichen. Sie wird in ihrem Sein und ihrem Bedürfnis geliebt und anerkannt zu werden, wie sie ist, nicht beantwortet. Sie fühlt einen Schmerz, den sie allein nicht tragen kann. Dieser Schmerz kommt auch in der Schule zum Ausdruck.

Wir Erwachsene haben hier die Möglichkeit, das Wissen und die Erfahrung tiefer hinzuschauen, hinzuhören und hinzuspüren:

• Was bedeutet dieses Verhalten?
• Was braucht das Kind um sich sicher zu fühlen?
• Was vermisst es?
• Wie können wir es unterstützen?

Kinder wollen kooperieren und dazugehören. Sie wollen Teil der Gemeinschaft sein und kooperieren mit den Blicken, Stimmungen, Worten, Glaubenssätzen, Handlungen und Gefühlen, die ihnen Erwachsene anbieten. Sie sind dabei sehr achtsam und nehmen alles in sich auf. All diese Informationen aus bewussten und unbewussten Aktionen und Reaktionen der Erwachsenen integrieren sie in ihre Selbstsysteme. Mit feinen Antennen scannen sie das Verhalten der Erwachsenen und wollen diese nicht enttäuschen. Dabei hören sie auch die unausgesprochenen Vorwürfe und versuchen, es so richtig wie nur möglich zu machen. Auch dieses 11- jährige Mädchen ist sehr feinfühlig und versucht alles, um den Erwartungen ihrer Mutter zu entsprechen.

„Meine Mama hat zwei Gesichter: ein sehr nettes und liebliches beim Lieblingsessen kochen oder wenn sie mich abholt, und dann das Gegenteil ... Man weiß nie welches Gesicht dran ist und wann es switcht. Das ist sehr anstrengend. Ich weiß nie, wie ich es ihr recht machen soll.“ 

Kinder sind verletzlich

Ein 10-jähriger Junge namens Rewan* hat mich mit seinen Worten sehr berührt. Er zeigt mir, wie wachsam Kinder alles wahrnehmen, wie verletzlich ihr innerer Kern und wie groß ihr Bedürfnis ist, wertvoll zu sein und in ihrer ganzen Schönheit gesehen zu werden.

Rewan sitzt verzweifelt vor mir. Er wird oft ermahnt und ständig kritisiert: „Ich höre nur: Rewan, du redest zu viel. Rewan, lauf nicht in der Klasse rum. Rewan, sei nicht so frech ...!"

Dann fragt er mich: "Wissen Sie eigentlich, was mein Name bedeutet? Rewan heißt „guter Mensch“. Und ich will als das gesehen werden. Ich bin eigentlich ein guter Mensch. Aber keiner sieht das.“

Manche Kinder können noch nicht so klar formulieren, wie sie sich fühlen und wonach sie sich sehnen. Sie brauchen Menschen, die gewillt sind, hinter das Verhalten zu schauen undden starken Gefühlen Raum und Sprache geben.

Ich denke hier an Leo*, der häufig mit Wutausbrüchen auf sich aufmerksam macht. Leo ist 8 Jahre alt und flippt schnell aus. Letzthin schlägt er einen Mitschüler mit der Faust ins Gesicht. Immer wieder verliert er die Kontrolle. Er will der Beste, Schnellste sein, kann nicht verlieren, will besonders sein … Sein Verhalten ist eine Botschaft, wenn auch noch eine unklare für mich. Später erklärt er mir: „Ich kann nicht anders. Ich bin schon so auf die Welt gekommen. Ich bin eben so!“ Dann fängt er an zu weinen und bricht innerlich in sich zusammen. Dieser kleine Junge fühlt sich schuldig und verkehrt. Bei ihm landet vermutlich: „Du bist falsch! So wie du bist, bist du nicht ok.“ Ich gehe davon aus, dass Leo einen guten Grund für das hat, was er tut. So wie jeder Mensch. Er will es gut machen und gibt das Beste, das ihm gerade möglich ist. Dieser Junge will nicht gegen jemanden kämpfen. Ich denke, er will dazugehören, sich wertvoll fühlen und es gut machen. Er scheint in einem Dilemma zu stecken, das er so auf seine Weise versucht, auszudrücken, aber es ihm aus Unwissenheit oder Unvermögen heraus noch nicht gelingt. Er braucht Erwachsene, die versuchen, seine Botschaft zu verstehen und ihm helfen, auszudrücken, was er zu sagen hat.

Gemeinsam im Lehrerteam besprechen wir, wie wir aus diesem Vertrauen heraus auf Leo zugehen und ihm uns zuwenden, um eine gute Grundlage für Resonanz zu schaffen. Fragen wie diese können nach dem nächsten Wutausbruch hilfreich sein: „Ich sehe es ist grad voll schwierig für dich, darf ich mich zu dir setzen? Magst mal erzählen, was bei dir so los ist? Ich hab den Eindruck, du bist recht gefordert. Wie ist es denn zu diesem Wutausbruch gekommen?“ Auf diese Weise bekommt er die Gelegenheit, sich selbst, seine Gefühle und Gedanken wahrzunehmen und in Worte zu fassen. Was daraus entsteht, wird sich im weiteren Verlauf zeigen.

Ich vertraue darauf, dass Kinder durch solche Begegnungen und Resonanzprozesse lernen, was sie für herausfordernde Situationen zukünftig benötigen. Wir wissen genauso wie sie, dass sie nicht unsere Kritik, Belehrung oder harten Konsequenzen brauchen. Durch achtsame Resonanzprozesse bringen wir ihren sozialen Kern zum Schwingen. Wir eröffnen dadurch einen Möglichkeitsraum, in den sie sich hineinentwickeln können. So kann Leo mit seiner Selbstwahrnehmung, Selbststeuerung und Empathie in Berührung kommen und diese weiter entfalten.

Empathieräume ermöglichen Entfaltung

Mir gehen die Schilderungen dieser Kinder unter die Haut. Ich höre ihr Ringen um Anerkennung und Wertschätzung, ihre Sehnsucht nach Sicherheit und Zugehörigkeit und ihr Bemühen, es so gut wie möglich machen zu wollen. Ich möchte ermutigen, für Kinder solche Begegnungs- und Resonanzräume zu schaffen – Räume, in denen wir ihre Anliegen hören, ihre Realität anerkennen und ihren Bedürfnissen begegnen.

Wie der Zwiebel den geschützten Ort in der Erde, möchte ich mit anderen gemeinsam Kindern einen Raum des So-da Sein-könnens schenken, des Da-Seins, mit all ihrer Realität und ihren Empfindungen. Einen Raum, der von aktivem Zuhören, echtem Interesse und offenem Dialog erfüllt ist. Wenn wir bereit sind zu hören, was sie wirklich zu sagen haben und vertrauen und sehen, wie sozial kompetent Kinder sind, passiert etwas Wunderbares. 

Sie gehen auf wie Blüten.

Sie entwickeln sich zu Menschen, die ihr ganzen Potential entfalten, die Verantwortung für sich übernehmen, die Selbstwirksamkeit spüren, die Liebe und Zärtlichkeit erleben und schenken, die Gefühle spüren und diese in Worte fassen lernen und eine Welt mitgestalten, die menschlich, zärtlich, lebendig, verletzlich, echt und berührend sein darf.

Für diese Empathieräume in Schulen mache ich mich stark. Empathieräume für die Kinder, die unsere ganze Liebe, unser ganzes Mitgefühl, das Fürsorgliche und Liebevolle sowie das Klare, Haltgebende und Gelassene brauchen, gerade dann, wenn es besonders schwierig ist.

Abschließen darf ich mit den weisen Worten eines 13-jährigen Mädchens: „Kinder brauchen mehr Liebe und Aufmerksamkeit, wenn es ihnen schlecht geht, nicht Ablehnung oder Strafen. Warum ablehnen oder bestrafen, wenn es einem schlecht geht und du helfen könntest?“

So wie ich mich vor der Schönheit meiner Tulpe verneige, spüre ich auch tiefe Anerkennung und Hochachtung vor den Worten dieser Kinder, die ich hier mit euch teile. Ich bedanke mich für den Einblick in ihr Fühlen, Denken und Sein. Indem sie mir ihre Herzenstüren öffnen und ihre Verletzlichkeit und Würde zum Ausdruck bringen, wird mir ihre Größe bewusst. Ich staune, verneige mich und schweige.

Wir können viel von ihnen lernen. Und wir können viel dazu beitragen, dass ihre Würde, ihre Integrität, ihre Schönheit und ihr ganzes Potential zur Entfaltung kommen kann.

 

*Alle Namen wurden von mir geändert.

Bildnachweis: Anders Wetterstam / Unsplash

 

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